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Eine Geschichte im Winter

 

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Una war niemals gehört worden, und nun wuchs die Stille mit jeder Schneeflocke, die auf ihrer zarten Haut zerfloss, und sie wurde lauter denn je. Während Una vergeblich versuchte ihren kleinen Körper zu bewegen, spürte sie etwas seltsam Lebendiges unter dem, was ihr linkes Bein sein musste. Es war ein Ziehen und Nagen, und - wenn sie nicht gleichzeitig diese Schmerzen empfunden hätte, die sich wie winzig kleine Nadeln durch ihre Haut bohrten - würde sie doch meinen, gab es da auch noch ein Kitzeln, begleitet von fast schon komisch wirkenden, hektischen Bewegungen.

 

Gerade als Una zu klären versuchte, ob diese überraschende Leichtigkeit ihrer unteren Körperhälfte dem Zittern geschuldet war, das sie wiederum der beißenden Kälte verdankte, spürte sie plötzlich einen Atem auf ihrer Wange, der auch einen Hauch von Wärme mit sich trug. Una fiel. Und auf einmal empfand sie eine Leichtigkeit, die sie aus ihrem Leben nicht kannte.

 

"Du liegst auf meiner Nuss!" war das Nächste, das sie vernahm, direkt an ihrem Ohr. Die Stimme, die diesen Satz gesprochen hatte, war seltsam. Una richtete sich auf, und als sie ihren Kopf drehte, fiel ihr Blick auf ein graues Eichhörnchen, das sie mit seinen funkelnden Murmelaugen erwartungsvoll anstarrte.

 

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"Danke", sagte das Eichhörnchen. "Weißt du, ich brauche diese Nuss. Mittlerweile bin ich ja fast schon so vergesslich wie die großen Zweibeiner."

"Was meinst du?" fragte Una, ein wenig verwundert über den klaren Klang ihrer eigenen Stimme.

"Willst du mich vergackeiern?" erwiderte das Eichhörnchen empört. "Na das weiß doch wirklich jeder, dass die Zweibeiner immer so tun, als wüssten sie mehr als alle anderen, dabei laufen sie in jedem Leben ihrer verlorenen Erinnerung hinterher. Irgendwie putzig, muss ich schon sagen."

"Was suchen sie denn?"

"Alles. Sich selbst, die Liebe, ja, und sich selbst. Weißt du, an wen sie mich erinnern? An Bruno, den Dackel vom Förster. Der jagt auch immer ganz versessen seinem eigenen Schwanz hinterher, als wäre er nicht ein Teil von ihm. Ja, genau so sind sie, die Zweibeiner. Nicht so wie du, kluges Kind!"

 

Doch noch ehe Una die Gelegenheit hatte nachzufragen, verdunkelte ein mächtiger, dunkler Schatten den schneebedeckten Boden, welcher sich schließlich als die Silhouette eines großen, schwarzen Rabens entpuppte, der direkt vor Unas Füßen landete, und offensichtlich das Eichhörnchen verscheucht hatte.

 

Er flatterte auf einen Ast in Unas Augenhöhe, neigte seinen Kopf und seine pechschwarzen Augen blickten geradewegs in Unas. Nach ungefähr zehn Sekunden einer gefühlten Ewigkeit öffnete der Rabe seinen Schnabel und sprach: "Hast du dich schon gefragt, warum gerade du?"

Und abermals war es die gleiche Frage, die sich ihren Weg aus Unas Mund bahnte: "Was meinst du?"

 

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"Was ich meine? Ich meine das hier." krächzte der Rabe. "Du hier allein, mitten im Nirgendwo, völlig allein."

"Ich bin nicht allein. Du bist doch hier." erwiderte Una

"Und wer sagt dir, dass ich nicht sofort wieder weiterfliegen werde?"

"Niemand. Aber ich weiß, dass du hungrig bist."

 

Una vermeinte zu sehen, wie der Rabe daraufhin grinste, auch wenn dies eigentlich nicht möglich war. 

"Du gefällst mir." sagte schließlich der Vogel. "Ich bewundere deinen Mut. Und solange ich darauf warte, bis du soweit bist, erzähl mir etwas von dir. Gibt es jemanden, der dich vermissen wird?"

"Sag du's mir", erwiderte Una und begann ein Lied zu singen, das den Raben und den gesamten Wald in seinen Bann zog. Alle Lebewesen rückten näher zusammen und zugleich auch näher an Una heran.

 

Als der letzte Ton verklungen war, stupste ein leuchtend weißer Schneehase mit seiner feuchten Schnauze an Unas Hand und fragte sie zögerlich: "Hast du denn keine Angst, nicht einmal ein bisschen?"

"Wovor denn?" wollte Una wissen.

"Vor dem Tod."

"Nein."

"Und warum nicht?"

 

Una beugte sich hinunter zu dem Häschen, nahm seinen kleinen Kopf in ihre noch kleineren Hände und sprach: "Weil es ihn nicht gibt, mein Freund. Nicht für dich und nicht für mich." Dann legte sie ihre Hand auf das vor Aufregung galoppierende Herz des Hasens und sprach weiter: "Wir sind alle eins, für alle Zeit. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Ich bin du bist ich bin du. Für immer schon. Kannst du es fühlen?". Die immer größer werdenden Augen des Hasens begannen zu leuchten und wo es grinsende Raben gab, da gab es auch vor Rührung weinende Hasen.

 

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In diesem Moment spürte Una eine warme und liebevolle Hand auf ihrer linken Schulter, und sie hörte eine sanfte Stimme sagen: "Komm Una, ich möchte dir etwas zeigen."

 

 

 

Ein paar Tage später war in der Zeitung zu lesen, dass ein Förster bei einem Spaziergang mit seinem Hund ein totes Mädchen im Wald aufgefunden habe. Die etwa sechsjährige Unbekannte ist laut Gerichtsmedizin erfroren. Weitere Details seien bisher nicht bekannt.

 

Ungewöhnlich - laut Aussage des Försters - war aber, dass sich einige Tiere des Waldes in der Nähe des Körpers aufhielten, und es gab noch etwas, das der Mann nie vergessen würde: Das wunderschöne Lächeln im Gesicht des Mädchens.